Pastorin Ursula Meckel  Schänkeplatz 6   

06502 Thale                                                                                                                                        11. März 1990

 

DEUTSCHLANDARCHIV

 

Ihr könnt uns nicht verstehen!

(Notizen aus der (DDR-) Provinz

Thale am Ost - Harz ist eine Kleinstadt, ca. 18.000 Einwohner, jedoch keine verträumte. Trotz des „wildromantischen Bodetals“ und der attraktiven Ausflugsziele Hexentanzplatz mit Bergtheater und Roßtrappe (per Seilbahn bzw. Sessellift oder besser wandernd zu erreichen) hält sich die Romantik eher in Grenzen.

Eine Industriestadt, geprägt von der 300jährigen „Hütte“ (Eisenhüttenwerk) mit ca. 7.000 Beschäftigten.

Zwei evangelische und eine katholische Gemeinde mit jeweiligen Kirchen gibt es hier, evangelisch nennen sich ungefähr 1.600 Menschen. Weder räumlich noch sonst standen die Kirchen in den vergangenen Jahren im Mittelpunkt des städtischen Geschehens.

Mit staatlichen Stellen gab es immer mal wieder, jedoch eher selten, Reibereien.

1976 als ich mich in einer Predigt zu meinem Freund Oskar Brüsewitz bekannte und gegen diffamierende Äußerungen im NEUEN DEUTSCHLAND und anderen Zeitungen protestierte; später wegen Ausstellungen in der St. Petri-Kirche, z. B. mit Texten gegen die Einführung der Wehrerziehung und gelegentlich wegen Schulproblemen.

Knapp einer Verhaftung wegen „staatsfeindlicher Hetze“ bin ich 1980 entgangen, als ich mich mit einem Brief an die Öffentlichkeit wandte:

Ein 15jähriger Konfirmand, wegen versuchter Republikflucht zu 10 Monaten Freiheitsentzug verurteilt, hatte sich das Leben genommen.

Ansonsten verlief das Leben friedlich, wir hatten uns aneinander gewöhnt, Berührungspunkte gab es wenige. Aller paar Jahre wurden die „geistlichen Würdenträger“ (Zitat) der Stadt zu Gesprächen ins Rathaus eingeladen – offenbar immer durch Anweisung „von oben“. In hölzerner Atmosphäre verliefen sie still und unbemerkt im Sande.

Unspektakulär blieb auch das kirchliche Leben, obwohl die kleine junge Gemeinde (in der auch Ausreisewillige Zuflucht fanden) durchaus mißtrauisch beäugt und gelegentlich unsinnige Gerüchte in Umlauf gesetzt wurden. Daran und an das Knacken im Telefon hatte ich mich ebenso gewöhnt wie an die Tatsache, montags keine Briefe zu bekommen. (Irgendwann mußten die Stasi - Leute ja ihren freien Tag haben.)

Westliche Besucher kamen regelmäßig zu uns in die Gemeinden. Die Erfahrungen mit ihnen waren sehr unterschiedlich. Zunehmend allergisch reagierten vor allem Jugendliche, wenn „Westler“ uns erklären wollten, wie wir hier zu leben hätten.

Ungewollte Verletzungen ergaben sich, wenn Gäste unbedarft von diversen Auslandsreisen erzählten. Vielleicht war nur schwer oder gar nicht nachvollziehbar, wie das auf Eingesperrte wirken mußte.

Wo wir uns Zeit nahmen, aufeinander zu hören, gelangen Begegnungen!

Die miese Meckerstimmung unter der Bevölkerung nahm in den letzten Jahren deutlich zu, richtete sich allerdings vornehmlich gegen Versorgungslücken und Engpässe und waren nicht auf politische Veränderungen aus. Dazu ging es uns wohl zu gut – wir hatten zuviel zu verlieren, anders als z.B. die Polen. Resignation hatte sich breit gemacht und lähmte. Im Mai 1989, als die Chinesen auf die Straße gingen und das schreckliche Ende noch nicht absehbar war, sagte ein Kollege: „Ich schäme mich, kein Chinese, sondern ein DDR-Bürger zu sein.“

Noch im Sommer wagte niemand ernstlich zu hoffen, daß es bei uns zu Demonstrationen kommen könnte. Kirchliche Oberhäupter warnten sogar davor. Der Erfurter Propst Heino Falcke stand mit seiner Befürwortung derartiger gewaltfreier Aktionen ziemlich allein auf weiter Flur.

Als staatliche Stellen auf die vielen Eingaben zur Kommunalwahl auf die Macht der Argumente mit dem Argument der Macht reagierten, verstärkte sich die hilflose Wut derer, die bleiben wollten. Die Ignoranz der Mächtigen kannte keine Grenzen. Auf die Mitteilung kirchlicher Mitarbeiter, daß und warum wir nicht an der Wahl teilnehmen würden, erfolgte überhaupt keine Antwort.

Erst die Ausreiseflut brachte das Faß endgültig zum Überlaufen. Seit September habe ich an meinem Trabi den Spruch: „Bleibe im Land und wehre dich redlich.“ Da sah es noch aus, als sei dies trotzige Hoffnung wider aller Hoffnung. Wie schnell das Kartenhaus zusammenbrechen würde, hatte niemand vorhergesehen.

 

Stationen der „Revolution in der Provinz“

Für den 26. Oktober 1989 war eine erste Zusammenkunft des NEUEN FORUMS in Quedlinburg angesetzt. Plakate gab es nicht, Handzettel verschwanden schnell von Bäumen und Häuserwänden, doch die Nachricht verbreitete sich.

Der Rat des Kreises entwickelte hektische Aktivitäten, die Telefone waren überlastet. Zum 25. Oktober 1989 lud der Ratsvorsitzende die beiden Gemeindekirchenräte zum „Dialog“ ins Rathaus ein. Zweck der Übung sollte sein, Gesprächsbereitschaft vorzuführen. Der Versuch scheiterte kläglich; mißriet zu einem Monolog altbekannten Stiles und gipfelte in der Versicherung des Ratsvorsitzenden, daß er mit „den Staatsfeinden vom NEUEN FORUM" unter keinen Umständen zu reden gedächte. (Sie saßen mit am Tisch!) Für den nächsten Tag rechneten staatliche Verantwortliche mit 50 bis 250 Personen.

Eine Stunde vor dem geplanten Beginn war Quedlinburg verstopft, die beiden größten Kirchen in der Innenstadt hoffnungslos überfüllt, ebenfalls der Kirchvorplatz. Nach Schätzungen waren 25.000 bis 30.000 Menschen zusammengeströmt. Wir spürten die Kälte nicht und litten nicht unter den unbequemen Stehplätzen an der Häuserwand. Ein unbeschreibbares Gefühl der eigenen Stärke war entstanden, machte Mut und gab uns die Freiheit, über die „unauffälligen Herren“ zu lachen.

Aufgeregter war ich am 31. Oktober 1989 in Thale. Zwei Tage vorher war der Termin festgelegt worden. Als Pastorin war ich mitverantwortlich, denn noch regierten Stasi und SED  und die Kirche bot Schutz.

Dieser Reformationstag wird unvergeßlich bleiben. Bis auf die Altarstufen drängten sich die Teilnehmer, Tausende mußten draußen bleiben. Da sank auch mir „geübter Rednerin“ das Herz tief in die Hosen und mancher Kloß im Hals mußte heruntergeschluckt werden. „Wir sind das Volk“ – der Satz bekam seinen einmaligen Sinn

In diesen Oktobertagen entstand erstmals eine DDR-Identität. Wir waren stolz und glücklich, endlich erwacht und „auferstanden aus Ruinen“, wurden uns eigener Möglichkeiten bewußt.

Ein Gefühl der Zusammengehörigkeit überschwemmte uns, riß mit. Fast übermütig die skandierten Rufe: „Mindestrente fürs ZK“, „Schnitzler in die Muppet-Show“ und immer wieder „Stasi in die Volkswirtschaft“.

Die unangemeldete Demonstration wurde von Verkehrspolizisten beschützt – daß sie sich Kerzen in die Hand drücken ließen und mit ihnen etwas hilflos, dann doch lächelnd, dastanden, rührte an.

Eine Woche später in der katholischen Kirche in Thale. Ca. 5.000 Menschen waren zusammengekommen, die meisten mußten wieder draußen bleiben. Der Bürgermeister und einige Ratsmitglieder warteten mit uns Verantwortlichen in der Sakristei, als wir in den Nachrichten vom Rücktritt der Regierung hörten. Lauter Jubel und rhythmisches Klatschen bei dieser Bekanntgabe - unbewegt die Gesichter der Vertreter der Staatsmacht. Wie mag ihnen zumute gewesen sein, was haben sie gedacht, gefühlt?

Minuten später holte sich der Bürgermeister Beifall, als er das NEUE FORUM Thale anerkannte -  damit waren wir die zweite Stadt in der DDR mit zugelassener Bürgerbewegung.

Der Witz des Ganzen: Imgrunde gab es uns noch gar nicht, der vorläufige Sprecherrat konstituierte sich erst am 12. November; es gab und gibt bis heute keine Mitgliederlisten.

Auf solche Details konnte in chaotischen Zeiten keiner Rücksicht nehmen und niemand fand Anstoß daran. In den folgenden Wochen öffnete das Zauberwort NEUES FORUM bis dahin streng verschlossene Türen: Wir wurden eingeladen zu den Sicherheitsberatungen der Volkspolizei (vorher hatte ein SED-Mitglied diese Aufgabe), in die Strafvollzugseinrichtung der Stadt, zu klärenden Gesprächen in die Schule. Fachforen gründeten sich zu den Gebieten Naturschutz, Bildung, Jugend, Gesundheitswesen, Kultur, Handel und Versorgung, Kommunalpolitik...

Das Blatt hatte sich gewendet. Die neuesten Nachrichten waren schon nach Stunden überholt, DDR-Zeitungen wurden lesenswert, DDR-Fernsehen und Nachrichten gehört. Das Wort „WAHNSINN!“ wurde zum meistgebrauchten Begriff.

Es dauerte nicht lange, bis der Höhenflug zur Talfahrt geriet. Doch dazwischen war der 9. November.

 

Wir lieben die DDR grenzenlos

Als Berlinerin war ich bis zum 13. August 1961 ständige Grenzgängerin. Um die politischen Unterschiede wahrzunehmen, war ich zu klein. Hier war die Mutter, dort die Großeltern, die Stadt mein Zuhause. Kann man sich an so Unmenschliches wie die Mauer gewöhnen? Wir mußten es – die machtlose Wut wurde verdrängt, beiseitegeschoben – verkraftet nie ganz!

1985 war ich eingeladen zum Kirchentag nach Düsseldorf und betrat erstmals wieder Westberlin. Verwirrende Gefühle, Kindheitserinnerungen.

Plötzlich sehen, was ich eigentlich immer wußte: Dieselben Straßennamen in West wie Ost – natürlich: Es ist ja eine Stadt. Und doch war sie jahrzehntelang unerreichbar.

Die Euphorie hielt sich in Grenzen – zuviel Trauer über unwiederbringlich Verlorenes schwang mit.

Besuche bei Freunden. Nur wenige verstanden das Außergewöhnliche meines Besuches für mich – sie haben ihren Alltag, eigene Probleme. Aber auch: Ehrliche Mitfreude, betroffene, unausgesprochene Trauer beim Abschied, beredtes Schweigen an der Grenze.

Am 9. November saß ich heulend vor dem Fernseher, ungläubig, nicht fassen könnend, was geschah. Parallel zur Freude die Erinnerung an diejenigen, für die es für immer zu spät war!

Was sich da abspielte an bewegenden menschlichen Begegnungen war überwältigend echt. Auch das unerwartet – soviel Nähe nach dieser Trennung, soviel Solidarität und noch ohne jeden Hintergedanken. Diese Tage und Bilder möchte ich nicht missen!

Aufheben als historische Dokumente werde ich die Zeitungen und Sonderausgaben – und auf dem Anrufbeantworter die Stimme meiner Schwester aus Berlin (sie wohnt direkt an der Grenze) am 10. November: „Mensch, die reißen die Mauer ein!“

Später ein Kneipenabend in Ost - Berlin. Mein Schwager, der mir immer wieder weinend um den Hals fiel, weil er mich – die Pastorin – nun endlich vor aller Augen gern haben darf. Bei den Parteiversammlungen hatte man ihm weisgemacht, daß die „Schwarzröcke“ Konterrevolutionäre seien. „Ich habe es doch nicht anders gewußt!“ Befreiung auch hier!

 

Ernüchternd die entwürdigenden Warteschlangen; fünf bis sieben Stunden, um 15 DM einzutauschen – und manchmal war das Geld dann alle.

Die Wechselbäder der Gefühle waren kaum zu verkraften. Inmitten von Menschen, die sich vor Reiseglück nicht zu lassen wußten, mußte ich einen   28jährigen Mann beerdigen, der bei einem Fluchtversuch durch die Oder am 3. Oktober ertrunken war. Letztes Opfer des menschenfeindlichen Systems?

Bewegend die Anteilnahme von Freunden und Fremden. Post aus Dänemark, den USA, vor allem aus der Bundesrepublik mit spontanen Einladungen. Die Vorweihnachtszeit machte manches zeitlich unmöglich – inzwischen ist es mit den Einladungen deutlich zurückhaltender geworden!

Ein Freund schrieb mir am 29. Dezember: „Dieses Gefühl der Unterlegenheit dürft Ihr nun wirklich fahren lassen nach den letzten Wochen. Und wenn Ihr dieses Gefühl verlaßt und Euch auf Euch selbst besinnt, dann wird es keinen Ausverkauf geben, keine Überfremdung. Wir können Partner bleiben und werden. Auf der anderen Seite aber wird Euch auch Selbstbewußtsein wachsen. Denn Ihr baut Euren Staat und Ihr werdet bestimmen, welche Wege Ihr nehmt.“

  

Polit - Amateure am Werk

Diesen guten Worten konnte ich schon damals nicht glauben . Inzwischen haben sie sich als Fehleinschätzungen erwiesen; alles kam noch einmal ganz anders!

Wie desolat und irreparabel Wirtschaft und Selbstwertgefühl zerstört sind, zeigte sich erst so nach und nach.  Während die Ereignisse sich überschlugen, mußten wir agieren und reagieren. Wir hatten nicht die Zeit, mit unseren Gefühlen nachzukommen. Demokratie konnten wir weder erlernen noch einüben.

Ein Leipziger Professor verglich unsere Situation trefflich mit der von Tiefseefischen. Sie können nur unter Druck leben, wenn sie plötzlich an die Oberfläche geraten, platzen sie. Ähnlich ergeht es uns – ein langsamer Druckausgleich konnte nicht stattfinden; jetzt werden wir mitgerissen, wohin wir nicht wollten.

Am 31. Oktober in der Kirche erhielt ein Redner tosenden Beifall für sein Bekenntnis: „Wir  wollen keine Wiedervereinigung. Wir wollen keinen Kapitalismus. Wir wollen einen eigenständigen Weg der DDR!“ Für solche Worte würde man ihn heute niederbrüllen – doch er selbst denkt jetzt auch ganz anders, ist in die CDU eingetreten und plädiert für möglichst schnelle Wiedervereinigung. Zwei andere des zehnköpfigen Sprecherrates sind inzwischen in den Westen abgehauen, eine weitere hat sich stillschweigend zurückgezogen

Als Trüppchen von 6 Aufrechten kämpfen wir weiter – die 14tägigen Zusammenkünfte im Rathaus sind auf ca. 30 Leute zusammengeschrumpft. Wir rennen herum, organisieren Informationsmaterial, diskutieren, werben und kommen uns langsam vor wie Don Quichotte im Kampf gegen Windmühlenflügel...

Die den Stein ins Rollen gebracht haben – unter Gefahr für ihre Sicherheit durch die „Sicherheit“! – sind unter der ausgelösten Lawine begraben. Andere, „Clevere“, aus Ost und West ziehen jetzt an den Fäden, bestimmen die Richtung.

Die ehemaligen sogenannten Blockparteien erweisen sich als wendige Leute; andere, die ebenfalls 40 Jahre lang schwiegen bzw. alles mitmachten, schreien jetzt um so lauter bzw. hauen gleich ab in den Goldenen Westen, um nicht noch länger auf den ersehnten Wohlstand zu warten.

Politik wird nicht mit Köpfen, sondern mit den Füßen und dem Bauch gemacht. Irgendwann werden einige ganz böse erwachen.

Unverändert zahlt die Bundesregierung den Ausreisern Gelder – zieht keine Konsequenz daraus, daß jetzt nur noch Ausreißer kommen – Wirtschaftsflüchtlinge und solche mit sozialen Problemen, die sie mit über die Grenze bringen

Während die neuen Gruppierungen noch über Programme und Strukturen diskutierten, tobt der verlagerte BRD - Vorwahlkampf in unserem Land. Wir nachdenklichen Politamateure sehen fassungslos zu und stellen fest: Von einer Abhängigkeit (SED) sind wir übergangslos in die nächste geraten (D-Mark).

Daran ändern auch die „Runden Tische“ nichts, obwohl dort  tapfer versucht wird, das Land bis zur Wahl regierbar zu erhalten.

Runde Tische – ziemlich eckig

Nach dem Berliner Vorbild entstanden Ende des Jahres weitere Runde Tische. Bevor zur „eigentlichen“ Arbeit geschritten werden konnte, waren Verfahrensfragen zu klären: zeitaufwendig, lästig und dennoch nötig.

An zwei Vorrunden habe ich mit gemischten Gefühlen teilgenommen:

1. Quedlinburg

Der Ratsvorsitzende hatte drei Vertreter des NEUEN FORUMS , drei von der SPD und zwei  Vertreter/innen der Kirche eingeladen zum Vorgespräch. Fast vier Stunden dauerte es, bis ein Konsens über die Kompetenz und die Zusammensetzung des Runden Tisches gefunden wurde: Er sei quasi eine Übergangsregierung, an ihm darf nichts vorbeigehen. Er befaßt sich vorrangig mit territorialen Sachfragen. Zusammensetzung: Je sieben Vertreterinnen der „alten“ und der „neuen“ Parteien, dazu ein Parteiloser von der Gewerkschaft und zwei von der Kirche.

Als Pastorin habe ich die vermittelnde Rolle der Gesprächsleitung übernommen.

 

2. Thale

Nur zwölf Kilometer weiter und einen Tag später sah es ganz anders aus. Der Bürgermeister hatte „die Kirche“ (und nur die evangelische) erst auf Druck hin eingeladen. Die Zusammensetzung war ebenso unglücklich. Alle bislang etablierten Parteien waren vertreten, unabhängig von ihrer Mitgliederzahl. (Bauernpartei z. B. 28 Mitglieder)

Fürchterlich beleidigt reagierten die Vertreter der Etablierten, daß sie von der neuentstandenen Opposition nicht als Opposition gesehen wurden – und zunächst sollte es dabei bleiben, daß die „gewählte“ Stadtverordnetenversammlung das letzte Wort behalten solle. Inzwischen kämpften die „Neuen“ bessere Bedingungen heraus und wehrten sich dagegen, als demokratisches Feigenblatt mißbraucht zu werden. Schwer machen es uns dabei bundesdeutsche Partner -  die verhandeln immer noch zunächst mit den Altregierenden und begreifen nur schwer, daß es auch andere Ansprechpartner gibt.

Wir treffen uns wöchentlich, sind etwas sicherer geworden in demokratischen Umgangsformen. An Grenzen geraten wir, wenn fachkompetente Thesen gegeneinander stehen und wir als Nichtfachleute überfordert sind. Längst überfällige Entscheidungen müssen wir immer wieder hinausschieben, weil wir zu wenig informiert sind. Der Vorwurf des reinen „Quatschvereins“ trifft uns. Wunder können wir jedoch nicht vollbringen und nicht in 40 Tagen retten, was in 40 Jahren verkommen ist und verwahrlost wurde.

  

Schwestern und Brüder nach der Wende

Normalerweise ist diese Anrede kirchlichen Kreisen vorbehalten. In manchem haben wir es jetzt leichter als andere Deutsche:

-          Innerkirchliche Verbindungen waren auch in den Jahren der Trennung vorhanden;

-      Christen in der DDR sind weniger diskreditiert, hier wurde der Widerstand gegen das System deutlicher verbalisiert; kirchliche Mitarbeiter hatten eine „Narrenfreiheit“, die sie überwiegend nutzten;

-        demokratische Umgangsformen wurden in Synoden und Gemeindekirchenräten eingeübt (bei allen Anfragen, ob das ausreichend geschah: an der Stelle habe ich kein schlechtes Gewissen!).

Der Beifall, der Kirchen und Christen in den Herbstwochen und danach gezollt wurde, war nicht nur mir schon fast unheimlich! Wohin sollte das führen? Macht korrumpiert – dagegen sind auch Christen keineswegs gefeit, wie die Kirchengeschichte gezeigt hat.

Zum Glück – und darum bin ich stolz auf meine Kirche! – nahmen wir schon bald wieder den berühmten Platz zwischen den Stühlen ein, der uns angemessener ist als ein Thron.

Nicht erst, als wir dem obdachlosen Honecker - Ehepaar Unterkunft gewährten.

Welch ein schäbiges Armutszeugnis für die ehemals Mächtigen – worauf Randsiedler der Kirche wütend reagierten und mit Austritt drohten.

Nach der Loccomer Erklärung vom Januar, die der Öffentlichkeit ein sehr schiefes Bild von (wiederver-)einiger Kirche vermittelte, wurde Widerspruch deutlich und hörbar. Mit großer Mehrheit wandte sich die Bundessynode gegen solche Voreiligkeit, die das Aufarbeiten der Vergangenheit behindern würde bzw. sogar verhindern könnte. Bei einem Gemeindeabend in Thale mit „Normalchristen“ wurde ganz ähnlich votiert.

Allzuschnell möchten sich (Ost-) Deutsche – wie 1945 schon einmal – auf die Seite der Sieger schlagen   o h n e  über Schuld nachzudenken und Trauerarbeit vermeidend.

Der Einwand der Kirche wird zu einer Ironie des Schicksals: Erst hatten wir die Regierung gegen uns – jetzt die Mehrheit des Volkes!

Wie die Kirche in den vergangenen Jahrzehnten stellvertretend den Mund aufmachte für die Unterprivilegierten, so muß es jetzt unsere Aufgabe sein, stellvertretend die bestehenden Trennungen auszuhalten! Es gibt nicht nur nationale Interessen, es gilt, internationale Verantwortlichkeiten deutlich zu machen.

Außerdem: Die Alternative Kapitalismus oder Sozialismus ist falsch und verkürzt auf den wirtschaftlichen Erfolg. Ein politisch - ökonomisches System ist aus der Perspektive der Opfer zu betrachten. Diese Erkenntnis müssen wir bewahren, wenn wir als Christen glaubhaft bleiben wollen.

Es fällt schwer, konkret zu benennen, was es aus den vier Jahrzehnten DDR-Sozialismus und dem Lernprozeß der Kirchen zu bewahren lohnt. Meines Erachtens liegt das nicht daran, daß es nichts Bewahrenswertes gibt (Freiwilligkeitskirche, Christenlehre außerhalb der Schule, Trennung von Staat und Kirche, konfirmierendes Handeln, Seelsorge an Militärangehörigen, aber keine Militärseelsorge – allerdings: Wie der Staat sind wir abhängig von westlicher Finanzhilfe!)  - sondern, daß so schwer vermittelbar ist, was und wie wir gelebt haben, dort wie hier.

Es ist nicht so, daß wir 40 Jahre nur gelitten haben und gequält wurden. Wir haben unseren Weg gesucht zwischen Anpassung und Widerstand, wir haben uns gewehrt und eingebracht. Vermissen werde ich die Solidarität der Unangepaßten, das Füreinanderdasein und –einstehen.

Wahrscheinlich ist es so: Ihr könnt uns nicht verstehen und wir Euch auch nicht!

 

Uns trennen  mehr als Grenzen

Bei meiner ersten Dienstreise gen Westen zum Kirchentag nach Düsseldorf fühlte ich mich erstmalig als DDR-Bürgerin ernst- und angenommen. Eine der 74 Eröffnungspredigten habe ich gehalten und der Gottesdienst war gut besucht. Das Interesse an einer Pastorin „von drüben“ war ehrlich und ich war froh, nicht gefragt zu werden, ob ich nicht bleiben wolle. Daß eine bekannte Zeitung mich recht ausführlich zitierte, bei dem Angebot bekannter Prediger, erfüllte mich mit leisem Stolz (ich bin nicht frei von Eitelkeiten), auch wenn  ich später zu Hause „angeschossen“ wurde, weil ich von der BRD als einem „fremden Land“ gesprochen hatte. Dabei – es ist mir fremd, bis heute, obwohl ich deutsch spreche und gute Freunde dort habe.

Mir passierte auch nicht, was ein anderer DDR-Teilnehmer erlebte, der gefragt wurde: „Wann müssen sie denn wieder weg aus Deutschland?“

Dieser sprachlich unfeine Unterschied widerfuhr mir erst bei meiner zweiten Dienstreise im September 1989; unreflektiert wurde über Deutschland und die DDR gesprochen.

Mein Eindruck ist der, daß sich bis zum Herbst 1989 nur sehr wenige Bundesdeutsche für uns DDR-Deutsche interessierten und versuchten, sich zu informieren.

Extrem, aber nicht einmalig  ist sicher, daß ich im November 1988 von einer älteren Dame gefragt wurde: „Haben sie denn eigentlich genug zu essen da drüben?“ Als ich freundlich, meine Ironie mühsam unterdrückend, versicherte, daß Grundnahrungsmittel ausreichend vorhanden wären, lehnte sich die Fragerin befriedigt zurück und wandte sich wichtigeren Dingen zu.

Ernstzunehmender erlebte ich Situationen mit Berufskollegen bei gemeinsamen Tagungen in Halle, zuletzt im Mai 1989. Da waren wir DDR - Leute bewegt und beschäftigt wegen der Wahlmanipulationen – keiner hat uns gefragt bzw. Unterlagen sehen wollen.

An mir hatte ich beobachtet: Als einer von unangenehmen Grenzprozeduren berichtete, fühlte ich mich angegriffen -  warum eigentlich?

Einer charakterisierte einen bestimmten Sachverhalt als „DDR - typisch“, woraufhin ich „in die Luft ging“, weil ich gehört hatte, was er weder gesagt noch gemeint hatte: Das ist mies!

Wir sprechen dieselbe Sprache. Wir sind ein Volk?

Jetzt sind wir gleichberechtigte Partner -  weil wir reisen dürfen?

Doch wir haben kein Geld, um die erkämpfte Freiheit zu bezahlen – und in den Warteschlangen und westlichen Kaufhäusern verlor unsere Revolution ihre Unschuld und ihre Würde. Unerträglich ebenfalls manche väterlichen Ratschläge Westdeutscher und mitgebrachte, hoffnungslos überalterte  Vervielfältigungsmaschinen (mit dem Bemerken, sie seien immer noch besser, als die Mühen, die wir vorher hatten...), gönnerhaft überreicht – das kratzt ebenfalls am zarten Pflänzchen Selbstbewußtsein.

Wir müssen uns Fragen gefallen lassen, die uns weh tun und die wir eigentlich erst allein mit uns und für uns klären müssen. Jeder hat sich irgendwie angepaßt, um zu überleben. Wie weit wir „mit den Wölfen heulen“ mußten, können nur wir selbst beantworten.

Es macht mich stumm, wenn ein 20jähriger Westberliner in unduldsamer, rhetorischer Frage wissen will, was wir denn in 40 Jahren Erhaltenswertes bzw. überhaupt geschaffen und erreicht hätten. Imgrunde macht mich die unbeabsichtigte Überheblichkeit wütend; ich denke an die Tiefseefische und daran, daß die schon seit 1945 an der Oberfläche (Doppelsinn beabsichtigt!) Schwimmenden – meines Erachtens nach dank Marshall-Plan etc. und eben nicht nur aus eigener Kraft! – uns keine Chance geben wollen oder können. Verletzt und hilflos schweige ich, weil der Fragende ein netter Bursche ist und sich nur nichts dabei denkt...

Wir sind alle Deutsche – aber auch andere Deutsche!

Wir haben eine gemeinsame Vergangenheit – und vier Jahrzehnte eine getrennte. Für die Bundesdeutschen ist der 9. November 1989 der „Tag der Deutschen“ – für uns DDR - Deutsche ist der 9. Oktober das entscheidende Datum des Jahres!

Aus dem stolzen Satz „Wir sind das Volk“ wurde die Verkürzung „Wir sind ein Volk“.

Ich glaube, Ihr könnt unsere Trauer wirklich nicht verstehen – ich hoffe und wünsche, daß wir uns die Zeit nehmen und sie einander geben, uns verstehbarer zu werden.

Daß ich Freunde in beiden deutschen Republiken habe, die das Nachdenken nicht scheuen, macht mir trotz allem Mut.

 

 Im Original  folgen noch einige ZUSATZTEXTE!

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