Im Sommer 2006 ist es 30 Jahre her, dass sich der Zeitzer Pfarrer Oskar Brüsewitz öffentlich verbrannte. Folgenden Beitrag für das Buch "Ich werde dann gehen" habe ich dazu im November 2005 geschrieben:

Gedenken an einen Freund:        Oskar Brüsewitz

Im August 1976 machte ich zusammen mit meiner Schwester Urlaub in Bulgarien, als einer unserer Skatpartner beiläufig sagte: „Da hat sich ein Kollege von dir das Leben genommen.“ Und als ich nicht sonderlich reagierte hinzufügte: „Er hat sich öffentlich vor einer Kirche verbrannt.“ Er nannte keinen Namen und keinen Ort und doch „wusste“ ich sofort: Das war Oskar.

Ich versuchte, an Nachrichten heranzukommen und fand die Bestätigung. Der Pfarrer Oskar Brüsewitz hatte sich vor der Michaeliskirche in Zeitz verbrannt. Die halbe Nacht saß ich am Strand, sah auf die Wellen und das weite Meer und erinnerte mich an viele Stationen und Begegnungen einer vierjährigen Freundschaft.

Wenn später sein Name fiel oder von seinem schrecklichen Tod gesprochen wurde, konnte sich der Eindruck eines finsteren, verirrten und verwirrten Fanatikers ergeben. Mir kommen ganz andere Bilder, auch viele leise; Erinnerungen an die Seiten von ihm, die nicht viele kannten.

Herumgesprochen hatten sich seine anstoß-erregenden Aktionen; die Plakate im Dorf oder an seinem Pferdewagen, das große Neonkreuz auf dem Kirchturm. Dabei waren dies in aller Regel Re - Aktionen auf andere Losungen. Als die Plakate „25 Jahre DDR“ in ihrer Masse einfach nicht mehr zu ertragen waren, fuhr er mit einem Schild herum „2.000 Jahre unbesiegbare Kirche Jesu Christi“. Als die landwirtschaftlich unhaltbare Losung „Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein“ propagiert wurde, reagierte er mit „Ohne Regen ohne Gott geht die ganze Welt bankrott“. Ein wenig erinnerte manches an Don Camillo und Peppone - allerdings fehlte den Beteiligten auf der anderen Seite meist der Humor.

Vieles von dem was er tat war darauf angelegt, Aufmerksamkeit zu erregen. Berühmt waren seine Bibelwochen und die originellen Methoden, Menschen zu erreichen. Wenn er auswärts einen Abend zu gestalten hatte, kam er nicht erst zur verabredeten Zeit, sondern Stunden vorher, spazierte im Dorf herum, schaute in die Höfe, scheute sich auch nicht in seinem dunklen Anzug bei einer Mistkarre mit anzupacken um einer Bäuerin zu helfen, charmant zu plaudern und in die Kirche einzuladen.

Einmal begegnete er dabei einem Jungen mit einem Blasinstrument und verwickelte ihn in ein Gespräch: Ob er denn damit wirklich musizieren könne, ob es noch mehr wären und der Knabe holte seine Freunde und schließlich bliesen sie in der Mitte des Ortes. Einwohner liefen zusammen und Oskar Brüsewitz warb für die Bibelwoche  - bis mit wehenden Rockschößen ein Mann angerannt kam. Es war der Pionierleiter, der den Fanfarenzug eilig zurückpfiff.

Ein anderes Mal erschien in der Zeitung eine Annonce: „Überraschungen mit Gott“, es ging um die Bibelwoche über den Propheten Jona. Eingeladen wurde in die geheizte Kirche. Viele Neugierige kamen, denn alle wussten: In dieser Kirche gab es keine Heizung! Oskar Brüsewitz war frühmorgens zum Bäcker gegangen und hatte mit ihm zusammen den Propan – Gasherd aus seiner Küche in die Kirche gebracht und den ganzen Tag mit allen vier Flammen und dem Backofen geheizt. Erfolg: In dem Gebäude hatte man tatsächlich den Eindruck von Wärme. Seiner Frau, die davon natürlich nichts wusste, hatte er einen kleinen Elektrokocher als Ersatz in die Küche gestellt. Und im Kollegenkreis  wurde gelästert, es müsse eigentlich heißen „Überraschungen mit Oskar“.

Erhebliches Aufsehen erregte es, als er an einem Freitagnachmittag mit seinem Pferdefuhrwerk und einem Riesenplakat („Ohne Regen ohne Gott geht die ganze Welt bankrott.“ – s. o.) von Rippicha nach Zeitz fuhr. Nach kurzer Zeit hatte jemand die Polizei informiert, die Superintendentur wurde angerufen: Man solle doch etwas unternehmen, der Brüsewitz sei verrückt geworden. Doch die Frau des abwesenden Superintendenten sah sich nicht in der Lage, etwas zu tun, so beschränkte sich die Polizei darauf, das Fuhrwerk mit Motorrädern bis in die Stadt zu eskortieren. Dort umkreiste er mehrfach den gut bevölkerten Marktplatz, bis er schließlich gestoppt wurde – ausgerechnet an dem vielbefahrenen Teilstück der Verbindung Leipzig – Zeitz – Altenburg.  Das Chaos wurde fast perfekt, die Pferde ausgespannt, das Schild konfisziert. Ohne diese Gegenaktionen wäre das Aufsehen deutlich geringer gewesen.

Am Montag danach erkundigte sich ein Anrufer bei der Polizei, was denn die Freiwillige Feuerwehr für merkwürdige Losungen hätte. Das Schild war so im Hof untergebracht worden, dass es von der Straße aus zu lesen war. Ein Scherzbold? Platte Dummheit? Oder ein heimlicher Sympathisant?

Diese und ähnliche Geschichten sprachen sich schnell herum.

Kaum einer aus dem Pfarrkonvent wusste dagegen, dass Pfarrer Brüsewitz über Jahre hinweg einmal monatlich an Krebs erkrankte Frauen, die in seinem Gemeindebereich zur Kur weilten, einlud zu einem fröhlich-besinnlichen Kaffeetrinken. Es begann mit einer Andacht in der Kirche, dann wurde erzählt und gesungen. Unbeschwerte und ermutigende Stunden für die Betroffenen; harte Arbeit für ihn als Organisator und diejenigen, die er einspannte, vor allem seine Frau und seine Töchter. Da konnte er seine politisch-kämpferischen Ambitionen ganz zurückstellen und war nur begnadeter Seelsorger.

Bei mir – ich war damals Studentin der Theologie im dritten Studienjahr – rief er eines Sonntagvormittags an, ob ich ihm bei einem dieser Nachmittage beim Kaffeeausschenken helfen könne. Ich sagte zu, er holte mich ab und zunächst trafen wir uns in der Kirche. Er begrüßte die ca. 40 Frauen herzlich zu dieser kleinen Andacht vor dem Treffen im Gemeindehaus und plötzlich glaubte ich, meinen Ohren nicht zu trauen: „Und unter ist Frau Pastorin Meckel, sie wird uns jetzt eine kleine Ansprache über Psalm XY halten.“ Ich erstarrte, traute mich aber nicht, vor den Frauen zu diskutieren, ging tapfer nach vorn, wählte einen anderen Psalm, über den ich schon mal etwas gearbeitet hatte. Hinterher stellte ich ihn zu Rede, aber er lächelte nur: „Was ist denn? War doch gut.“

Später war ich präpariert, wenn er anrief und fragte: „Was machst du denn heute Nachmittag beziehungsweise morgen früh?“ Dann wusste ich, er suchte jemanden zum Predigen und ich tat es gern. Ihm war bewusst, dass die Sprache nicht seine große Stärke war und neidlos anerkannte er, wenn andere etwas besser konnten als er und setzte ihre Fähigkeiten ein. Ein Kommilitone von mir hat mehrfach kurzfristig angesetzte Kindernachmittage mitgestaltet, einfach weil er da und ansprechbar war.

Es ist nie einem Pfarrer gelungen, sich unerkannt in einen Gottesdienst bei Oskar Brüsewitz zu setzen. Selbst in der hintersten und dunkelsten Reihe wurde er von ihm entdeckt, freudig begrüßt und nach vorn geholt, um sich an der Verkündigung zu beteiligen.

Oskars große Gabe war es, Leute im Doppelsinn des Wortes „anzusprechen“ – es gelang ihm immer, schnell Kontakte zu finden, ob zu Kindern oder zu älteren Menschen. Gemeinschaft und gemeinsame Mahlzeiten bedeuteten ihm viel und im Pfarrhaus von Rippicha gab es immer etwas Gutes – ob für spontane Gäste oder auch für die Gottesdienstteilnehmenden. Seine Frau ist damit oft überrascht worden, doch sie kannte ihn schließlich lange genug und ihre Gastfreundschaft war ebenso ehrlich wie herzlich und ist es übrigens bis heute!

Wichtig waren ihm regelmäßige Besuche bei kirchlichen Mitarbeitern. Ich höre noch seine Stimme durch das Haus schallen, wenn er nach einer Tasse Kaffee rief. „Wir müssen zusammenhalten, wir müssen voneinander wissen“ - er bot Freundschaft an und suchte und erwartete sie von anderen. Einmal haben wir fast die ganze Nacht auf dem evangelischen Kinderspielplatz von Rippicha verbracht, weil er befürchten musste, dass der zerstört wird. Und tatsächlich waren etliche Kollegen zu diesem ungewöhnlichen Einsatz da. Schaukelnd und wippend haben wir geredet und gesungen und waren froh, dass nichts passierte.

„Wir Talarträger müssen zusammenhalten,“ sagte er immer wieder und diese Solidarität funktionierte damals weitgehend. Als er wieder einmal eine Geldstrafe zahlen musste, weil er einen ökumenischen Kindernachmittag nicht gemäß der „Veranstaltungsordnung“ angemeldet hatte (Eigentlich sollte alles, was kein liturgisch korrekter Gottesdienst war, polizeilich angemeldet werden; allerdings hielt sich kaum jemand daran.), gab es am folgenden Sonntag in allen katholischen, freikirchlichen und evangelischen Gottesdiensten eine Kanzelabkündigung, mit der Geld gesammelt wurde – dazu gleich die Ankündigung: Wenn mehr Geld einkommt als die Strafe ausmacht, wird es für die nächsten Kindernachmittage verwendet. Der Erfolg war enorm und die nächsten Zusammenkünfte schon im Vorhinein finanziell gesichert.

Oskar Brüsewitz war jederzeit bereit, sich mit seinen Möglichkeiten für andere einzusetzen. In einer für mich sehr schwierigen persönlichen Situation rief ich ihn an einem kühlen, verregneten Novemberabend an und sagte ihm begründungslos: „Ich brauche dich.“ Nach kurzer Zeit war er da. Was ich nicht wissen konnte: Schwer erkältet, gerade aus dem Bad gekommen, die Haare noch nass, der Trabant defekt. Er hatte sich auf das Moped seiner Tochter gesetzt.

Bei allen Gesprächen mit ihm ging es sehr schnell um „das Eigentliche“ - die Botschaft vom auferstandenen Christus. Er wirkte immer wie einer, der nur wenig Zeit hatte und sie nicht vergeuden wollte.

Als er einmal zum Urlaub förmlich gezwungen wurde, dauerte es nicht lange, bis er die Kinder des Zeltplatzes in das Familienzelt lockte, von Gott und Jesus erzählte und seine Frau es selbst dort schaffte, etwas Essbares für alle zu zaubern.

Irgendwann musste er als Patient ins Krankenhaus, wir wollten ihn besuchen und erwarteten ihn im Bett liegend. Weit gefehlt – er war auf den Fluren unterwegs und sprach Mitpatienten an.

Meiner Erinnerung nach war er herzkrank und wusste wohl auch, dass er nicht alt werden würde. Vielleicht deshalb seine Ungeduld. Lange Planungen waren ihm zuwider und langes Gerede ebenfalls. Als im Konvent ein netter und kluger Kollege ein Referat über den bekannten Theologen Gogarten hielt, unterbrach er ihn nach geraumer Zeit: „Hört doch auf mit eurem Kohlgarten. Wir sollten einen Kindertag machen, möglichst am nächsten Wochenende.“

Wer ihn nicht mochte, hatte damit sicher Probleme. Dienstvorgesetzte hatten es ebenfalls nicht leicht, wenn er seinen Diensttrabi zum Eggen einsetzte, wozu der natürlich nicht geeignet war und die Reparaturkosten entsprechend hoch wurden. Später übernahm sein Pferd die Arbeit in der Landwirtschaft und auf dem konnte sogar geritten werden, es wurde ein echtes „Missionspferd“ und der Superintendent konnte an diesem Punkt aufatmen.

Bei allem war Oskar Brüsewitz ein zutiefst frommer Mensch, der zum Beispiel das Lied „So nimm denn meine Hände“ sehr liebte und sechs weitere Strophen hinzugedichtet hatte:

Vers 6.: Ich gehe öfter irre und komm nicht los. O Herr, gedenke meiner, du bist so groß. Ach tritt an meine Seite und geh nicht fort. Du bist für heut und immer mein treuer Hort.

Vers 9: Nun lass mich endlich wandern in dieser Welt. Lass meine Schritte gehen, wie’s dir gefällt. Ach stille meine Tränen mit deinem Blut. Ich bin gewiss, noch heute wird alles gut.

Vers 10: Wenn ich hab überwunden, dann nimm mich auf. In deinem Vaterhause endet mein Lauf. Lass mich allzeit lobsingen im höhern Chor. Dann sing ich dir auf ewig das Halleluja vor.

Dieses Lied hat er vor seiner Fahrt zur Michaeliskirche am 18. August 1976 noch gesungen, am Klavier begleitet von Tochter Esther.

Freundschaft war ihm wichtig - fromm war er - und ein fröhlicher Mensch. Er hat gern und viel gelacht. Wer ihn nicht kannte und nur von seiner Tat hörte, kann sich das nur schwer vorstellen. Was ihn letztlich bewogen hat, mit seinem Flammentod predigen zu wollen, kann niemand mit Gewissheit sagen und wir haben darüber - Gott sei Dank! - auch nicht zu richten oder zu urteilen.

Viele seiner Aktionen und zeichenhaften Handlungen waren ungewöhnlich, entsprachen nicht der „Norm“. Ihn deshalb als „unnormal“ darzustellen, wie es die damals Herrschenden in böser Weise öffentlich taten, war ganz sicher diffamierend und die offizielle Kirche hat das auch deutlich gesagt.

Ohne Oskar Brüsewitz zu einem Propheten machen zu wollen, fällt mir doch ein, welche ungewöhnlichen Taten einzelner Berufener in der Bibel beschrieben werden: Jeremia zerschlug einen Topf und lief mit einem Joch am Hals durch die Stadt; Hesekiel brach ein Loch in die Wand seines Hauses anstatt die Tür zu benutzen; Jesus aß demonstrativ mit lichtscheuem Gesindel und asozialen Elementen. Das alles musste mehr als merkwürdig wirken.

Für mich bleibt das Gedenken an einen ungewöhnlichen, liebenswerten Menschen und Mitbruder. Ein gemeinsamer Freund schrieb Oskar Brüsewitz Gedanken zu aus den „Gebeten aus der Arche“; das Gebet der Wildgeiß. Worte, die er sicher nicht selbst gefunden hätte, die jedoch für ihn  stimmig sind:

„Herr, ich habe nach meiner Phantasie gelebt - Phantasie für dich. Ich brauchte ein wenig wilde Freiheit, ein wenig Taumel im Herzen und den fremden Geschmack von unbekannten Blumen. Die Schafe verstehen nichts! Sie rupfen alle und allzeit im selben Sinn und käuen dann endlos wieder. Ich, ich bin gesprungen inmitten deiner Schöpfung, über Abgründe hinweg, über den Abgrund meines Herzens, dir in die Arme.“

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